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5 Ob 233/22h; OGH; 19. Juli 2023
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi, die Hofrätin Dr. Weixelbraun Mohr und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der wohnrechtlichen Außerstreitssache der Antragstellerin Mag. E* H*, vertreten durch Mag. Rupert Rausch, Rechtsanwalt in Wien, gegen die übrigen Mit- und Wohnungseigentümer der Liegenschaft EZ * KG *, darunter 10. R* W*, vertreten durch Dr. Markus Löscher, LL.M., Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, wegen § 52 Abs 1 Z 1 WEG 2002, über den Revisionsrekurs der 10. Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 3. Oktober 2022, GZ 19 R 42/22w 33, mit dem der Sachbeschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 4. Juli 2022, GZ 18 MSch 11/21g 21, aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
[1] Die Antragstellerin und die Antragsgegner sind die Mit- und Wohnungseigentümer einer Liegenschaft.
[2] Mit Antrag vom 07.10.2021 begehrte die Antragstellerin die Neufestsetzung der Nutzwerte. Sie begründete dies damit, dass gemäß der der Begründung des Wohnungseigentums im Jahr 1995 zugrunde liegenden Nutzwertfestsetzung den im Dachgeschoß gelegenen Wohnungen W 11, 12, 13 und 14 jeweils ein oberhalb der Wohnräume gelegener Dachbodenlagerraum zugeordnet sei. Die Wohnungseigentümer hätten diese ausschließlich über die jeweilige Wohnung zugänglichen Dachbodenlagerräume mit Flächen bis zu 41,39 m² nachträglich in Wohnräume umgebaut. Angesichts der stark unterschiedlichen Regelnutzwerte für die Wohnräume einerseits und für die Dachbodenlagerräume andererseits hätten diese Umbauten die Nutzwerte der Wohnungseigentumsobjekte wesentlich geändert. Gemäß § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 könne in einem solchen Fall jeder Miteigentümer die gerichtliche Nutzwertfestsetzung beantragen, und zwar innerhalb eines Jahres ab Vollendung der Bauführung. Die zuletzt genannte Voraussetzung des § 10 Abs 2 WEG 2002 sei jedenfalls aufgrund der genannten baulichen Vorgänge in der Top 14 gegeben. Bei dieser Wohnung sei die Bauführung zur Umgestaltung des Dachbodenlagerraums in Wohnräume nämlich frühestens am 05.02.2021 abgeschlossen gewesen, weil die Baubehörde dem Wohnungseigentümer (erst) mit Bescheid von diesem Tag die Bewilligung der Adaptierung der Raumnutzung erteilt habe.
[3] Das Erstgericht wies den Antrag ab.
[4] Der Antrag sei entgegen § 10 Abs 2 WEG 2002 nicht innerhalb eines Jahres ab Vollendung der Bauführung gestellt worden. Der eine gerichtliche Nutzwertfestsetzung rechtfertigende Tatbestand des § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 stelle nur noch auf „bauliche Vorgänge“ und die Frist des § 10 Abs 2 WEG 2002 daher nur auf deren Vollendung ab, nicht aber auf das Erfordernis einer Baubewilligung.
[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Antragstellerin Folge. Es hob den angefochtenen Sachbeschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung auf.
[6] Gemäß § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 seien auf Antrag die Nutzwerte vom Gericht insbesondere dann abweichend vom Nutzwertgutachten festzusetzen, wenn sich der Nutzwert eines Wohnungseigentumsobjekts nach Vollendung der Bauführung durch bauliche Vorgänge auf der Liegenschaft wesentlich ändert. Gemäß § 10 Abs 2 WEG 2002 könne die gerichtliche Nutzwertneufestsetzung in diesem Fall jedoch nur innerhalb eines Jahres ab „Vollendung der Bauführung“ verlangt werden. Nach den Gesetzesmaterialien solle diese Formulierung dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Vielzahl von baurechtlich relevanten Vorgängen im Gegensatz zu früher heute keiner behördlichen Bewilligung mehr bedürfe. Das Rekursgericht schließe sich daher der Auffassung von T. Hausmann (in Hausmann/Vonkilch WEG4 Rz 24) an, dass in berichtigender Auslegung des § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 für den Fristenlauf auch auf eine solche abzustellen sei, wenn die anzuwendende Bauordnung (nach wie vor) eine behördliche Bewilligung erfordere. Solange für eine bewilligungspflichtige Bauführung keine Baubewilligung erteilt worden sei, könne sie nicht vollendet sein. Die Baubewilligung für die Umbauarbeiten im Objekt W 14 sei erst am 5. 2. 2021 erteilt worden. Damit erweise sich der am 07.10.2021 gestellte Antrag auf Nutzwertfestsetzung als fristgerecht.
[7] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob für den Beginn der Jahresfrist des § 10 Abs 2 WEG 2002 nur auf die Beendigung der faktischen Bauführung oder, für den Fall, dass die Bauführung einer Baubewilligung bedarf, (auch) auf diese abzustellen sei.
[8] Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der 10. Antragsgegnerin. Sie beantragt, die angefochtene Entscheidung abzuändern und den Sachbeschluss des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise stellt sie Aufhebungsanträge.
[9] Die Antragstellerin beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt.
[11] 1.1. Die erstmalige Ermittlung der Nutzwerte erfolgt durch einen dazu qualifizierten Sachverständigen (§ 9 Abs 1 WEG 2002). Auf Antrag sind die Nutzwerte vom Gericht insbesondere dann abweichend von diesem Nutzwertgutachten („neu“) festzusetzen, wenn sich der Nutzwert eines Wohnungseigentumsobjekts nach Vollendung der Bauführung durch bauliche Vorgänge auf der Liegenschaft wesentlich ändert (§ 9 Abs 1 Z 4 WEG). Dieser Tatbestand erfasst demnach wesentliche Änderungen des Nutzwerts nach Vollendung der ursprünglichen Bauführung durch spätere bauliche Vorgänge auf der Liegenschaft (Würth/Zingher/Kovanyi, Miet- und Wohnrecht II23 § 9 WEG Rz 14).
[12] Schon dem Wortlaut nach („bauliche Vorgänge“) wird dabei im Unterschied zur Vorgängerbestimmung des § 3 Abs 2 Z 3 WEG 1975 nicht (mehr) auf eine baubehördliche Bewilligung abgestellt. In den Materialien (RV 989 BlgNR 21. GP 43) heißt es dazu:
„In den Z 3 und 4 wird das Abstellen auf eine baubehördliche Bewilligung, wie es noch im Ministerialentwurf entsprechend der bisherigen Rechtslage enthalten war, aufgrund der Ergebnisse des Begutachtungsverfahrens aus den Tatbeständen herausgenommen. In mehreren Stellungnahmen wurde nämlich darauf hingewiesen, dass die Bezugnahme auf baubehördliche Bewilligungen insofern überholt sei, als mehrere Bauordnungen das Erfordernis einer Baubewilligung nicht mehr enthielten. Deshalb wird nun nur noch an die 'abweichende Bauführung' (Z 3) bzw an 'bauliche Vorgänge' nach Vollendung der Bauführung (Z 4) angeknüpft, ohne dies mit dem Erfordernis einer baubehördlichen Bewilligung zu verbinden.“
[13] 1.2. In den Fällen der Nutzwertänderung aufgrund baulicher Veränderungen iSd § 9 Abs 2 Z 3 und 4 WEG 2002 kann die gerichtliche Nutzwertfestsetzung nur innerhalb eines Jahres ab Vollendung der Bauführung beantragt werden (§ 10 Abs 2 WEG 2002). Im Fall des § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 ist mit der „Vollendung der Bauführung“ freilich nicht die ursprüngliche, sondern die spätere Bauführung gemeint (Würth/Zingher/Kovanyi, Miet- und Wohnrecht II23 § 10 WEG Rz 6).
[14] Die Tatbestände der Neufestsetzung des § 9 Abs 2 Z 3 und 4 WEG 2002 stellen nicht (mehr) auf eine baubehördliche Bewilligung ab. Daher ist auch der Lauf der in § 10 Abs 2 WEG 2002 normierten Frist zur Antragstellung nicht (mehr) daran geknüpft (Nitsch in GeKo Wohnrecht II § 10 WEG Rz 24; so schon LGZ Wien MietSlg 63.448).
[15] 1.3. T. Hausmann (in Hausmann/Vonkilch, WEG4 § 10 WEG Rz 24) will § 9 Abs 2 Z 3 und 4 WEG 2002 dahin berichtigend auslegen, dass die Einjahresfrist des § 10 Abs 2 WEG 2002 erst mit Rechtskraft der entsprechenden Bewilligung zu laufen beginnt, wenn für eine bauliche Änderung nach der einschlägigen Bauordnung nach wie vor eine behördliche Bewilligung notwendig ist. Vorher, also zu einem Zeitpunkt, zu dem noch gar nicht feststehe, dass eine Baulichkeit überhaupt errichtet werden dürfe, sei eine Neufestsetzung der Nutzwerte deshalb abzulehnen, weil ein konsenswidriger Zustand nicht Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Akts sein dürfe. Sinn und Zweck der nunmehrigen, von seinen Vorgängerbestimmungen abweichenden Formulierungen sei es ja keineswegs, die Bestimmungen inhaltlich zu ändern, sondern lediglich dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine Vielzahl von baurechtlich relevanten Vorgängen im Gegensatz zu früher, heute keiner behördlichen Bewilligung mehr bedürften.
[16] Diesem Auslegungergebnis steht allerdings der Wortlaut der Norm und seine Entstehungsgeschichte entgegen. Für die Beurteilung des Sinns einer Norm ist die Vorstellung des historischen Gesetzgebers zwar nicht allein ausschlaggebend. Durch Auslegung ist vielmehr der nach heutigem Verständnis maßgebende Inhalt zu ermitteln (RIS Justiz RS0008874). Dabei ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehenden Kriterien in wertender Entscheidung der Zweck der Regelung klarzustellen (RS0008877). Das führt hier aber zu keinem anderen Ergebnis. Die von T. Hausmann (aaO) geforderte teleologische Reduktion einer gesetzlichen Regelung (vgl RS0008979) erfordert den klaren Nachweis des Gesetzeszwecks, an dem sich die – den Gesetzeswortlaut letztlich korrigierende – Auslegung orientieren soll (RS0106113 [T3]). Hier ist aus den Materialien aber abzuleiten, dass der Gesetzgeber bewusst auf das Erfordernis einer baubehördlichen Bewilligung verzichtet und eine einheitliche Regelung für alle Bauvorgänge unabhängig von deren öffentlich-rechtlichen Implikationen vorgesehen hat; dass dieser den Umstand, dass es nach wie vor bauliche Vorgänge gibt, die einer Baubewilligung oder Bauanzeige bedürfen, und damit die nach der ratio bestehende Notwendigkeit einer Ausnahme übersehen hat, kann ihm nicht unterstellt werden.
[17] 1.4. Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten: Die gerichtliche Nutzwertfestsetzung aufgrund baulicher Vorgänge nach Vollendung der (ursprünglichen) Bauführung iSd § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 kann nur innerhalb eines Jahres ab Vollendung dieser (späteren) Bauführung beantragt werden (§ 10 Abs 2 WEG 2002). Abzustellen ist dabei auf die Beendigung des eigentlichen baulichen Vorgangs, das allfällige baurechtliche Erfordernis einer Baubewilligung oder Bauanzeige hat auf den Lauf dieser Frist keinen Einfluss.
[18] 2.1. Nach den Feststellungen des Erstgerichts wurden einzelne den Wohnungseigentumsobjekten als Zubehör zugeordnete Dachbodenlagerräume von den jeweiligen Wohnungseigentümern zu unterschiedlichen Zeiten zu Wohnräumen umgebaut. Beim Objekt W 11 wurde in den Jahren 1998/1999 umgebaut, bei den Objekten W 13 und W 14 spätestens 2011 bzw 2016. Auf den Tatbestand des § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 kann sich der Antrag auf Neufestsetzung der Nutzwerte daher nicht mehr erfolgreich stützen; dieser ist insofern verfristet. Das führt hier aber nicht zwingend zur Abweisung des Antrags. Die Antragstellerin hat sich zwar auf § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 berufen, der Sache nach aber einen Grund für die Neufestsetzung der Nutzwerte geltend gemacht, der keiner solchen Präklusion unterliegt.
[19] Der weiteren Auseinandersetzung mit eben diesem Anspruchsgrund ist vorauszuschicken, dass die Grenzen der Entscheidungsbefugnis auch im wohnrechtlichen Außerstreitverfahren durch den Verfahrensgegenstand, also den Inhalt des Sachantrags und das diesen begründende Tatsachenvorbringen abgesteckt werden (§ 36 Abs 4 AußStrG; RS0124048 [T2]); nicht hingegen durch die rechtliche Beurteilung dieses Vorbringens. Das Gericht ist daher an die vom Antragsteller vorgenommene rechtliche Qualifikation des dem Antrag zugrundeliegenden Sachverhalts nicht gebunden (zur korrespondierenden Bestimmung des § 405 ZPO: RS0037551; RS0037659; RS0037419 [T3]).
[20] 2.2. Die Fälle der gerichtlichen Neufestsetzung der Nutzwerte sind weder in § 3 Abs 2 WEG 1975 noch in § 9 Abs 2 WEG 2002 taxativ aufgezählt (5 Ob 43/18m; RS0083159). Der Gesetzgeber des 3. WÄG hat dies durch Einfügung des Wortes „insbesondere“ im ersten Satz des § 3 Abs 2 WEG 1975 klargestellt und jener des WEG 2002 hat dies nochmals ausdrücklich betont (RV 989 BlgNR XXI. GP 43). Damit in Einklang hat die Rechtsprechung neben den ausdrücklich normierten Tatbeständen zwei weitere typische Fallgruppen, nämlich zum einen das „Hervorkommen der wahren Sachlage“, sowie zum anderen „Änderungen der Sachlage“ entwickelt (T. Hausmann in Hausmann/Vonkilch, WEG4 § 9 WEG Rz 25).
[21] Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bildet die Verletzung zwingender Grundsätze der Nutzwertberechung einen an keine Frist für die Geltendmachung gebundenen Grund für die gerichtliche (Neu-)Festsetzung der Nutzwerte, und zwar auch dann, wenn das Abweichen von diesen Grundsätzen durch eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse herbeigeführt wurde oder die der Nutzwertfestsetzung widersprechende Sach- und Rechtslage erst nachträglich hervorgekommen ist (5 Ob 248/18h; 5 Ob 207/16a je mwN; RS0117709, RS0083169). In dem Fall eines Verstoßes gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertberechnung konnte und kann die Neufestsetzung dabei ohne zeitliche Begrenzung und ohne Bagatellgrenze geltend gemacht werden (RS0083159 [T8], RS0083169 [T9], RS0117708 [T2], RS0107277 [T3]).
[22] Mit § 9 Abs 2 Z 1 WEG 2002 wurde dieses bereits zum WEG 1975 entwickelte Antragsrecht ausdrücklich im Gesetz festgeschrieben (RS0083159 [T14]; RS0083169 [T8]; nach T. Hausmann in Hausmann/Vonkilch, WEG4 § 9 WEG Rz 25 nur in Bezug auf die Fallgruppe „Hervorkommen der wahren Sachlage“).
[23] 2.3. Als Verstoß gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertberechnung hat die Rechtsprechung beispielsweise das Übergehen wohnungseigentumstauglicher Objekte, die Zuweisung eines Nutzwerts für allgemeine Teile der Liegenschaft, die Schaffung eines neuen Wohnungseigentumsobjekts „ohne Nutzwert“ oder auch die mit keiner baulichen Veränderung einhergehende Umwidmung allgemeiner Teile der Liegenschaft in Objekte, an denen Wohnungseigentum oder zumindest Zubehörwohnungseigentum bestehen soll, qualifiziert (5 Ob 38/03d mwN; RS0117710). Auch die falsche Einordnung in eine der wohnungseigentumsrechtlichen Kategorien (Wohnungseigentumsobjekt, Zubehör und allgemeine Teile der Liegenschaft; § 2 Abs 2 bis Abs 4 WEG 2002) ist ein solcher Verstoß (5 Ob 118/22x, 5 Ob 248/18h; RS0117710 [T3]). Gleiches gilt für die Änderung der (Zweck-)Widmung Nutzungsart eines Wohnungseigentumsobjekts, etwa von Geschäftsraum auf Wohnung, im Regime des § 3 Abs 2 WEG 1975 oder § 9 Abs 2 WEG 2002 (5 Ob 43/18m).
[24] Bloße Lese-, Mess- und/oder Rechenfehler oder Bewertungsfragen fallen hingegen nicht darunter, insbesondere nicht das Abweichen von veröffentlichten Empfehlungen für Zu- und Abschläge beim Nutzwertgutachten (5 Ob 225/14w; RS0117710 [T4]).
[25] 2.4. Eine gerichtliche Festsetzung der Nutzwerte abweichend vom Nutzwertgutachten ist also auch dann möglich, wenn die Liegenschaft von den Mit- und Wohnungseigentümern einvernehmlich so verändert wurde, dass die Nutzwertfestsetzung nicht mehr den zwingenden Berechnungsgrundsätzen entspricht (5 Ob 156/98x; RS0083159 [T4]); ein darauf gestützter Antrag auf Nutzwertberichtigung ist nicht fristgebunden.
[26] Die Antragstellerin hat diesen keiner Präklusion unterliegenden Grund für die Neufestsetzung der Nutzwerte geltend gemacht. Die Verhältnisse hätten sich hier insofern nachträglich geändert, als die den im Dachgeschoß gelegenen Wohnungen als Zubehör zugeordneten, ausschließlich über die jeweilige Wohnung zugänglichen Dachbodenlagerräume erheblichen Ausmaßes in Wohnräume umgebaut worden seien. Das Erstgericht hat die Tatsache dieses Umbaus für einzelne Wohnungseigentumsobjekte auch festgestellt, für die Wohnung W 14 implizit auch den Umstand, dass die Zugangsmöglichkeit im Inneren durch den Einbau einer halbgewendelten Treppe geändert wurde.
[27] Dieser Umbau der Dachbodenflächen in Wohnraum hat zur Folge, dass deren Bewertung im Rahmen der bestehenden Nutzwertfestsetzung nicht (mehr) den zwingenden Grundsätzen der Nutzwertberechnung entspricht. Zur Änderung der Nutzungsart von Lagerfläche auf Wohnraum, die in der Rechtsprechung schon als solche als eine die Nutzwertfestsetzung rechtfertigende Änderung des Sachverhalts gesehen wird, kommt hier offenbar die falsche wohnungseigentumsrechtliche Einordnung der Räume als Zubehör. § 2 Abs 3 WEG 2002 fordert für Zubehörwohnungseigentum, dass das Zubehörobjekt mit dem Wohnungseigentumsobjekt baulich nicht verbunden ist (5 Ob 118/22x). Die bauliche Verbindung des Wohnungseigentumsobjekts mit der zum Wohnraum umgebauten Dachbodenfläche durch Einbau einer Treppe stünde daher der Einordnung eben dieser Räumlichkeit als bloßes Zubehör wohl entgegen. Der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt reicht freilich noch nicht aus, um diese Frage der baulichen Verbindung abschließend zu klären. Eine solche bauliche Verbindung könnte insbesondere auch schon ursprünglich bestanden haben, diese „wahre“, die Zubehörtauglichkeit ausschließende Sachlage könnte also nachträglich hervorgekommen sein.
[28] 2.5. Auch in Bezug auf eine andere Vorfrage der Berechtigung der beantragten gerichtlichen Nutzwertfestsetzung lässt der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt eine abschließende Beurteilung nicht zu.
[29] Ausgangspunkt der Nutzwertberechnung muss die – der Rechtslage entsprechende – Widmung sein (RS0083252). Die der materiellen Rechtslage widersprechenden, in diesem Sinn also bloß faktischen Veränderungen rechtfertigen die Neufestsetzung der Nutzwerte nicht. Nehmen Wohnungseigentümer bauliche Veränderungen an ihren Wohnungseigentumsobjekten und/oder an den allgemeinen Teilen der Liegenschaft vor, so führt dies daher nur dann zu einer Änderung der Nutzwerte und Nutzwertfestsetzung, wenn diese Veränderungen auf einer privatrechtlichen Einigung der Wohnungseigentümer basieren oder auf einer gerichtlichen Genehmigung, weil sich andernfalls die dafür maßgebliche Widmung nicht geändert hat. Eine der materiellen Rechtslage widersprechende, also bloß faktische Veränderung rechtfertigt die Neufestsetzung der Nutzwerte nicht (5 Ob 207/16a; Ofner in GeKo Wohnrecht II § 9 WEG Rz 27).
[30] Der Oberste Gerichtshof hat zwar wiederholt ausgesprochen, dass die Widmung grundsätzlich auch auf einer bloß konkludent zustande gekommenen Willenseinigung der Miteigentümer beruhen kann (RS0083252 [T8]), die sich etwa an lang geübten Nutzungen oder dem Baukonsens bei einvernehmlich vorgenommenen Um und Ausbauten festmachen lässt (RS0118149 [T3]). Das Vorbringen der Antragstellerin dazu beschränkt sich aber auf die nicht weiter konkretisierte Behauptung, es sei die schlüssige Zustimmung aller Wohnungseigentümer anzunehmen; das Erstgericht stellte in diesem Zusammenhang ohne Bezugnahme auf konkrete Beweisergebnisse lediglich pauschal fest, die anderen Wohnungseigentümer hätten diese Umbauten jahrelang unwidersprochen geduldet. Auf dieser Basis ist eine allfällige Zustimmung der jeweils anderen Miteigentümer zu Baumaßnahmen und den damit verbundenen Widmungsänderungen nicht möglich.
[31] 3.1. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Ablauf der in § 10 Abs 2 WEG 2002 normierten Frist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Neufestsetzung der Nutzwerte nach § 9 Abs 2 Z 4 WEG 2002 die Abweisung des Antrags nicht trägt. Die Antragstellerin macht mit der Behauptung des durch eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse herbeigeführten Abweichens von zwingenden Grundsätzen der Nutzwertberechung einen Grund für die Neufestsetzung der Nutzwerte geltend, der keiner Präklusion unterliegt. Ob tatsächlich alle Voraussetzungen für diese Möglichkeit der Nutzwertfestsetzung gegeben sind, lässt sich nach den bisherigen Verfahrensergebnissen ebenso wenig abschließend beurteilen, wie die bestimmenden Faktoren und das Ergebnis einer solchen Festsetzung.
[32] Der Sachbeschluss des Erstgerichts wurde durch das Rekursgericht daher im Ergebnis zu Recht aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen. Dem Revisionsrekurs war somit nicht Folge zu geben.
[33] 3.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 37 Abs 3 Z 17 MRG iVm § 52 Abs 2 WEG 2002. Die danach gebotenen Billigkeitserwägungen können erst in dem die Sache erledigenden Sachbeschluss angestellt werden (RS0123011 [T1]).
Leitsätze
-
Gerichtliche Nutzwertfestsetzung: Zu faktisch baulichen Veränderungen und konkludenter Zustimmung
Bauliche Veränderungen können grundsätzlich zur gerichtlichen Neufestsetzung der Nutzwerte berechtigen. Ausgangspunkt ist allerdings immer die Widmung. Bloß faktische bauliche Veränderungen, die der materiellen Rechtslage widersprechen, rechtfertigen die Neufestsetzung der Nutzwerte nicht. Die Widmung kann auch durch konkludente Willenseinigung der Miteigentümer (etwa lang geübte Nutzung, einvernehmlich vorgenommene Um- und Ausbauten) getroffen werden.Eva-Maria Hintringer | Judikatur | Leitsatz | 5 Ob 233/22h | OGH vom 19.07.2023 | Dokument-ID: 1162664