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Rufbereitschaft unter Berücksichtigung der neuesten EuGH-Judikatur
Gastautor Johann Schöffthaler, BA MA, erläutert anhand von zwei EuGH-Urteilen, wann Rufbereitschaft zur Arbeitszeit zählt. Welche Kriterien müssen dabei beachtet werden?
Das besondere an den EuGH-Urteilen C-344/19 und C-580/19 sind die fast wortgleichen Urteile, obwohl es sich um zwei komplett verschiedene Fälle handelt. Der interessanteste Aspekt dabei sind nicht die Urteile an sich, sondern die Schlussanträge des Generalanwaltes Giovanni PITRUZZELLA, welcher für beide Fälle verantwortlich ist.
Die Urteile im Kurzüberblick
C-344/19:
„Art 2 Nr 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer lediglich telefonisch erreichbar und in der Lage sein muss, sich bei Bedarf innerhalb von einer Stunde wieder an seinem Arbeitsplatz einzufinden, wobei er die Möglichkeit hat, sich in einer von seinem Arbeitgeber am Arbeitsort zur Verfügung gestellten Dienstunterkunft aufzuhalten, aber nicht verpflichtet ist, dort zu bleiben, nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeit, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Bei einer solchen Beurteilung ist es unerheblich, dass es in der unmittelbaren Umgebung des Arbeitsorts wenig Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten gibt.“ (sic!)
C-580/19:
„Art 2 Nr 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeiten, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.“ (sic!)
Rufbereitschaft als Arbeitszeit oder Freizeit?
Das besondere an diesen Urteilen ist, dass seitens des EuGH keine Entscheidung getroffen wurde, ob die Fälle bezüglich Rufbereitschaft als Arbeitszeit oder Freizeit zu werten sind. Der EuGH spielt den Ball zurück an die nationalen Gerichte und erteilt den Auftrag eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls zu machen, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, um festzustellen, ob die den betroffenen Arbeitnehmern während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie ihre Möglichkeit, dann die Zeit, in der ihre beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie ihren eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.
Der Generalanwalt Giovanni Pitruzzella stellt in seinen Schlussanträgen fest, dass in beiden Fällen die Angabe in den Vorlagefragen fehlt, wie oft der „Ruf“ zur Arbeit erfolgte.
Urteil C-344/19: Techniker in Sendeanlagen
Im Fall von C-344/19 ging es um einen Arbeitnehmer der als spezialisierter Techniker in den Sendeanlagen von Pohorje (Slowenien) und dann von Krvavec (Slowenien) beschäftigt wurde. Die Art der Arbeit, die Entfernung der Sendeanlagen von seinem Wohnort sowie der zeitweise erschwerte Zugang zu ihnen machten seinen Aufenthalt in der Nähe der betreffenden Standorte erforderlich.
Einer der beiden Standorte war so weit vom Wohnort entfernt, dass es ihm selbst unter günstigsten Wetterbedingungen unmöglich gewesen wäre, sich täglich dorthin zu begeben. Die Arbeitgeberin ermöglichte in den Gebäuden der beiden Sendeanlagen den Aufenthalt von dem Arbeitnehmer und eines anderen Technikers, die dort jeweils beide zugleich anwesend waren. Nach Erbringung ihrer Arbeitsverpflichtungen konnten sich die beiden Techniker in den Aufenthaltsräumen ausruhen oder in der Umgebung Freizeitaktivitäten nachgehen. Der Arbeitnehmer erhob Klage mit dem Ziel, für die Stunden, in denen er Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft geleistet hatte, eine Vergütung in gleicher Höhe wie für Arbeitsstunden über die reguläre Arbeitszeit hinaus zu erhalten, unabhängig davon, ob er während des Bereitschaftsdiensts konkrete Arbeiten verrichtete. Er stützte seine Klage darauf, dass er am Ort der Arbeitserbringung gelebt habe und daher de facto 24 Stunden am Tag am Arbeitsplatz anwesend gewesen sei. In Anbetracht der Art seiner Arbeit und des Umstands, dass er sich in den Sendeanlagen aufgehalten habe, habe er nicht frei über seine Zeit verfügen können, ua, weil er während seiner Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft Anrufe habe beantworten und bei Bedarf innerhalb einer Stunde an seinen Arbeitsplatz habe zurückkehren müssen. Da es an den Standorten der Sendeanlagen nicht viele Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten gegeben habe, habe er im Übrigen den größten Teil der Zeit in diesen Anlagen verbracht.
Urteil C-580/19: Rufbereitschaft bei der Berufsfeuerwehr
Im Fall C-580/19 ging es um einen Beamten der Berufsfeuerwehr der während der Rufbereitschaft ständig erreichbar sein und seine Einsatzkleidung sowie ein ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Einsatzfahrzeug mit sich führen muss. Er muss eingehende Anrufe entgegennehmen, durch die er über Ereignisse informiert wird und zu denen er Entscheidungen zu treffen hat. In bestimmten Fällen muss er zur Einsatzstelle oder zu seiner Dienststelle ausrücken. Während der Rufbereitschaft hat der Beamte seinen Aufenthaltsort so zu wählen, dass er im Fall der Alarmierung in Einsatzkleidung und mit dem Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung und von Wegerechten innerhalb von 20 Minuten die Stadtgrenze von Offenbach am Main erreicht. In diesem Fall, wenn nämlich die Reaktionszeit auf den Ruf zum Einsatz offensichtlich kurz ist, nämlich auf wenige Minuten beschränkt, ist der Generalanwalt der Ansicht, dass dies genügt, um die Zeit der Rufbereitschaft ohne weitere Feststellungen aufgrund der vorstehenden Erwägungen als Arbeitszeit einzustufen:
Die Bewegungsfreiheit des Arbeitnehmers ist in diesem Fall so beschränkt, dass davon auszugehen ist, dass auch der Aufenthaltsort durch die Vorschriften des Arbeitgebers eingeschränkt ist.
Die Überlegungen des Generalanwaltes dazu sind folgende:
Aus dem instrumentalen Zusammenhang zwischen der Richtlinie 2003/88 und den von der Charta anerkannten sozialen Grundrechten wird geschlossen, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/88 und die Bestimmung ihres Anwendungsbereichs die umfassende und tatsächliche Inanspruchnahme der von ihr den Arbeitnehmern/innen zuerkannten subjektiven Rechte ermöglichen müssen, wobei jedes Hindernis zu beseitigen ist, das diese Inanspruchnahme tatsächlich begrenzen oder beeinträchtigen kann. Zu diesem Zweck ist bei der Auslegung und Umsetzung der Richtlinie 2003/88 zu berücksichtigen, dass, wie der Gerichtshof mehrmals festgestellt hat, der oder die Arbeitnehmer/in als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der oder die Arbeitgeber/in ihm oder ihr eine Beschränkung seiner oder ihrer Rechte auferlegen kann.
Daher stellt der Schutzzweck den Orientierungspunkt dar, von dem sich der Gerichtshof bei der Auslegung der Richtlinie 2003/88 leiten ließ. Ein klares und aussagekräftiges Beispiel für die teleologisch orientierte Auslegung des Gerichtshofs findet sich zunächst in seiner Auslegung der Definitionen von „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“. Die Richtlinie definiert nämlich den Begriff Arbeitszeit für Zwecke der Anwendung des in ihr vorgesehenen Schutzes als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer … arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Spiegelbildlich ist die Ruhezeit „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“.
Der Gerichtshof hat mehrmals entschieden, dass die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 unionsrechtliche Begriffe darstellen, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie zu bestimmen sind, der darin besteht, Mindestvorschriften zur Verbesserung der Lebens und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer/innen aufzustellen. Daher dürfen diese Begriffe nicht nach Maßgabe der Vorschriften der Regelungen der verschiedenen Mitgliedstaaten ausgelegt werden. Der Umstand, dass die Definition des Begriffes Arbeitszeit auf die ‚einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten‘ verweist, bedeutet daher nicht, dass die Mitgliedstaaten den Inhalt dieses Begriffes einseitig festlegen können. Die Mitgliedstaaten dürfen den Anspruch des Arbeitnehmers oder Arbeitnehmerin auf ordnungsgemäße Berücksichtigung der Arbeitszeiten und dementsprechend der Ruhezeiten somit keinerlei Bedingungen unterwerfen, da dieser Anspruch sich unmittelbar aus den Vorschriften dieser Richtlinie ergibt. Jede andere Auslegung würde dem Ziel der Richtlinie 93/104 zuwiderlaufen, durch Mindestvorschriften den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu harmonisieren.
Der Gerichtshof vertritt daher entschieden einen zweigleisigen Ansatz:
Die Zeit des Arbeitnehmers ist entweder Arbeitszeit oder Ruhezeit.
Der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich daher entnehmen, dass drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um den Rufbereitschaftsdienst als Arbeitszeit anzusehen:
- Der Arbeitnehmer hält sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort auf,
- der Arbeitnehmer steht dem Arbeitgeber zur Verfügung, um einem Ruf Folge zu leisten, und
- die Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers ist besonders kurz.
Somit ergibt sich die Problematik für viele Arbeitgeber/innen, welche Rufbereitschaft anbieten bzw verlangen, beurteilen zu müssen, ob bzw ab wann die Rufbereitschaft keine Freizeit sondern Arbeitszeit ist.
Kriterien zur Frage, ab wann ist Rufbereitschaft Arbeitszeit
Seitens des Generalanwaltes werden zu berücksichtigende Kriterien genannt wie zB
- Wie schnell muss der oder die Arbeitnehmerin reagieren?
- Wie oft erfolgt ein „Ruf“?
- Müssen Vorbereitungen bzw Vorarbeiten wie zB Umziehen einer besonderen Bekleidung geleistet werden?
- Begrenzen die insgesamt auferlegten Einschränkungen die Möglichkeiten des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, seine oder ihre persönlichen und familiären Interessen und seine oder ihre Freiheit, sich vom Arbeitsplatz wegzubewegen, wahrzunehmen, oder sind sie geeignet, diesen nahezu absolut entgegenzustehen?
Es können zusätzliche Kriterien herangezogen werden, die gemeinsam zu prüfen sind, wobei die Gesamtwirkung zu berücksichtigen ist, die alle Bedingungen der Durchführung in einem System der Rufbereitschaft auf die Ruhezeit des Arbeitnehmers haben können. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Zeit der Rufbereitschaft die Freiheit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin in gewissem Umfang einschränkt und begrenzt. Ziel des Unionsrechts ist es, zu verhindern, dass diese Beschränkungen derart einschneidend sind, dass sie dem oder der Arbeitnehmer/in keine tatsächliche Ruhezeit ermöglichen.
Hinweis zu Punkt 4: Im Urteil bzgl passive Reisezeit während der Wochenendruhe (OGH 2017/12/20 12Ra67/17k) wird seitens des OGH genau auf diesen Aspekt verwiesen, worauf der OGH urteilte, dass für die passive Reisezeit Ersatzruhe zu gewähren ist, somit diese Zeit nicht als Freizeit zu werten ist.