„Störung der Leistungserbringung“ nach ÖNORM B 2110 führt nicht automatisch zur Vertragsanpassung
Eine „Störung der Leistungserbringung“ nach ÖNORM B 2110 berechtigt den Auftragnehmer zur Vertragsanpassung. Wichtig für die Geltendmachung dieser Ansprüche ist aber jedenfalls der Nachweis, dass diese Störung dem Auftraggeber zuzuordnen ist.
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Sowohl nach dem ABGB als auch nach ÖNORM B 2110 sind AN (Auftragnehmer) grundsätzlich berechtigt, eine Verlängerung der Leistungsfrist zu verlangen, wenn der AN aus Gründen, die der AG (Auftraggeber) zu vertreten hat, bei der Ausführung seines Werks gehindert wird. Dabei ist zu beachten, dass der AN bei einem Bauvertrag, dem nicht die ÖNORM B 2110 zugrunde liegt, das Risiko für zufällige Ereignisse, insbesondere für höhere Gewalt, selbst trägt, weil diese Ereignisse nach dem ABGB der „neutralen Sphäre“ zugeordnet werden.
Anwendbarkeit der ÖNORM B 2110
Anderes gilt, wenn die ÖNORM B 2110 anwendbar ist: Hier werden unvorhersehbare Ereignisse, deren Auswirkungen selbst bei äußerst möglicher Sorgfalt durch den AN nicht abwendbar sind, der Sphäre des AG zugeordnet (zB außergewöhnliche Witterungsbedingungen, fehlende Freigaben durch den AG, COVID-19 bedingte Unterbrechungen). Behinderungen bei der Leistungserbringung, die der Sphäre des AG zugeordnet werden, werden nach ÖNORM B 2110 als „Störung der Leistungserbringung“ bezeichnet. Diese Störungen berechtigen den AN zur Vertragsanpassung. Darunter fällt einerseits der Anspruch auf Verlängerung der Leistungsfrist sowie andererseits der Anspruch auf zusätzlichen Werklohn (Mehrkosten).
Achtung:
Wichtig für die Geltendmachung dieser Ansprüche ist aber jedenfalls zunächst der Nachweis, dass die Behinderung dem AG zuzuordnen ist. Zudem müssen die tatsächlichen Auswirkungen der Störung auf den Bauablauf und auf die Kosten des AN konkretisiert und nachvollziehbar belegt werden. Ist die Behinderung dem AN zuzurechnen, besteht kein Anspruch auf Vertragsanpassung und der AN hat alles Zumutbare aufzuwenden, um die Leistungsfristen einzuhalten – ansonsten ist er im Verzug.
Nachweispflicht des AN bei entstandenem Mehraufwand (OGH-Entscheidung)
In einem vom Obersten Gerichtshof am 21.12.2022 zu GZ 6 Ob 136/22a behandelten Fall wurde ein AN am 30.01.2020 nach Durchführung einer öffentlichen Ausschreibung mit Bauarbeiten beauftragt. Nach Abschluss der Arbeiten legte der AN am 30.06.2020 die Schlussrechnung. Darin machte der AN Forderungen für aus der COVID-19-Pandemie resultierende Mehrkosten im Zusammenhang mit der Ausführung des Bauvorhabens geltend. Durch die pandemiebedingten Maßnahmen sei es zu erheblichen Kosten und Produktivitätsminderungen gekommen. Mit Schreiben vom 15.05.2020 wurden die Mehrkosten der Höhe nach angemeldet.
Der AN brachte vor, dass ihm Mehrkosten aus dem Tragen von Schutzmasken, dem Leistungsabfall durch das Tragen von Schutzmasken, der Unterbringung der Mitarbeiter in Quartieren und dem Einsatz von Desinfektionsmittel entstanden seien. Diese zusätzlichen Aufwände und Leistungsstörungen wurden anhand der Stellungnahme eines Sachverständigen zu Mehrkosten wegen geänderter Umstände der Bauausführung, ausgelöst durch Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie, berechnet. Es wurden mehrere Gutachten von verschiedenen Personen zum Thema COVID-Kosten erstellt. Eines davon war von einem Sachverständigen für die Landesinnung Bau. Dessen wissenschaftliche Studie bzw seine gutachterliche Stellungnahme wurde auch dem AG übermittelt, sodass nach Ansicht des AN die Grundlage für die angemeldete Mehrkostenforderung für den AG überprüfbar gewesen sei.
Der AG wendete aber die Unschlüssigkeit des Klagebegehrens hinsichtlich der COVID-19 bedingten Mehrkostenforderung ein. Diese waren für ihn nicht überprüfbar, weil keine Nachweise über die angefallenen Aufwendungen vorgelegt wurden.
Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 21.12.2022 zu GZ 6 Ob 136/22a erkannt, dass die Folgen der Pandemie bei einem ÖNORM B 2110-Vertrag grundsätzlich der Sphäre des AG zuzuordnen sind.
Punkt 7.2.1. der ÖNORM B 2110 ordnet der Sphäre des AG Ereignisse zu, wenn diese zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht vorhersehbar waren und vom AN nicht in zumutbarer Weise abwendbar sind. So ist zB der Anspruch auf Ersatz von COVID-19 bedingten Mehrkosten grundsätzlich berechtigt.
Nachweis für Geltendmachung von Mehrkostenanforderungen
Für die erfolgreiche Geltendmachung von Mehrkostenforderungen sind nach dem Obersten Gerichtshof aber die Behauptung und der Beweis von konkret entstandenen Mehrkosten durch den AN erforderlich. Der AN muss also konkret angeben, welche konkreten Kosten (zB Anschaffungskosten für Masken, Desinfektionsmittel etc) baustellenspezifisch angefallen sind, wie viele Arbeiter wie viele Tage tätig waren und wie viele Masken sie verbraucht haben etc.
Der Nachweis mit einem rein bauwirtschaftlichen Gutachten ohne jeglichen Bezug zur konkreten Baustelle reicht nicht. Die Anerkennung einer solchen pauschalen Herleitung würde im Ergebnis bedeuten, dass der AN letztlich von der Behauptungslast der jeweils tatsächlich angefallenen Mehrkosten entbunden wäre. Auch wenn die Art der Darstellung der Empfehlung der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) oder von Sachverständigen bzw der Darstellungsform der Österreichischen Bautechnikervereinigung (ÖBV) entspricht, ändert dies nichts am Erfordernis, ganz konkret vorzubringen, welcher Mehraufwand tatsächlich aufgrund des nicht vorhersehbaren Ereignisses angefallen ist; den AN trifft diesbezüglich immer eine Nachweispflicht. Denn ein Gericht wird dem AN keine Mehrkostenforderungen zusprechen, wenn dieser nicht nachvollziehbare Belege für den geltend gemachten Mehraufwand vorlegen kann. Das heißt, der AN ist als Beweisführer verpflichtet, die zur Ableitung des Begehrens dem Grunde und der Höhe nach erforderlichen Tatsachen vorzubringen.
Praxistipp:
- Nachweis, dass Störung dem AG zuzuordnen ist
- Sorgfältige Dokumentation von Mehraufwendungen.
- Nachvollziehbare Darstellung des Anspruchs auf Vertragsanpassung.